Donnerstag, 4. Februar 2016
das Organ
Ich stand heute morgen auf, setzte mich an den Computer und sah meine Mails durch. Bis auf Werbung und News war mein Posteingang leer. Wie deprimierend es doch ist, jeden morgen aufzustehen, sich an den Computer zu setzen und einem verhungernden Posteingang "Hallo" zu sagen. Ich starrte noch ein paar Minuten auf den Bildschirm, um zu realisieren, dass ich wirklich schon wach war. Ich tätschelte lieblos auf die Tastatur, öffnete Youtube und suchte ein Lied, „Wir werden“ von Knorkator, ein super aufheiterndes Lied, perfekt um in den ohnehin verhassten Tag einzusteigen. Gähnend lief ich in die Küche und begrüßte meine Schwester, die am Tisch saß und Schokolade in sich reinstopfte. Sie sah einer Leiche ähnlicher als einem Menschen. Mit leblosen Augen starrte sie mich an und verschlang ein weiteres Stück süße braune Sünde. Kühlschrank Ahoi! Der überfüllte Kühlschrank zauberte wie jeden Morgen ein Lächeln auf mein Gesicht. Joghurts, blutendes Fleisch, Butter, Eier und Milch sprangen mir förmlich, vor Freude mich zu sehen, in die Arme. Es schien mir schon immer so, als wollten sie sich alle übertrumpfen, köstlicher aussehen als der andere, um endlich der eisigen Kälte zu entfliehen und den endgültigen Tod in meinem Magen zu finden. Ich griff nach einem Schokoladenjoghurt und gesellte mich zu meiner Schwester, diese aber flüchtete und ich saß alleine am Tisch. So schaufelte ich die braune Masse lustlos in mich rein und versuchte das Kreuzworträtsel vom Vortag zu lösen. Jedoch jede Lücke mit dem richtigen Buchstaben zu füllen, gelang mir auch heute nicht.
Plötzlich schrie meine Schwester auf. ,, Wo ist das Blut? Wo sind die verdammten Blutsäcke?!". Weil wir alleine zu Hause waren, die Eltern also bei der Arbeit, beschuldigte sie mich als böse Bluträuberin. ,, Was hast du damit gemacht?! Spuck’s schon raus!" schrie sie mich an. Ich zuckte mit den Schultern.,, Weißt du, Schwesterherz, vielleicht hat das Blut zurück in den dazugehörigen Körper gefunden und sich aus dem Staub gemacht." Das war zuviel, sie fiel wie ein Stein zu Boden und heulte und schrie, ein kleines Kind, welches ihr Spielzeug verloren hatte.
Ich tänzelte belustigt einmal um sie herum und schlich mich mäuschenstill wieder an den Computer. Dieser begrüßte mich mit einem leichten, vertrauten Surren.
Ich durchforschte das Internet nach Organspenden, was sich als schwierig herausstellte. Auf diversen Erotikseiten, fand ich zwar annährend etwas zu dem Thema, aber nicht ausreichend anonym. Natürlich wussten unsere Eltern nichts von unserem Treiben auf der Anderswelt, der dunklen Seite, wie es meine Schwester immer nannte. Ich besorgte ihr das Material, sie spielte damit und ich verkörperte die geisteskranke Gestalt, um die sich unsere Eltern sorgten, auf Schritt und Tritt verfolgten und liebten, so dass sie nicht realisierten, das nicht ich es bin, die geisteskrank ist, sondern meine Schwester.
Aber kann man wirklich sagen, sie ist nicht normal, weil sie nicht wie normale Kinder, nicht mit Plastikpuppen spielte, sondern lieber mit lebenden Puppen? Ich denke kaum, jeder von uns hat irgendein Fetisch, das er ausleben muss, bevor er gänzlich durchdreht. Aber bevor sie zur eiskalten Mörderin wird, werde ich alles tun, um sie zu befriedigen ohne das jemand Schaden daran nimmt, zumindest nicht ungewollt. Eigentlich hätte ich nichts dagegen, mal in der Gefriertruhe eine Leiche vorzufinden anstatt Eis und tiefgekühlte Pizzen. Eine Leiche war wesentlich faszinierender und setzte sich nicht an meinen Hüften an, die ja ohnehin langsam das Endstadium erreicht hatten und mich zu einer Diät zwangen.
Ich meldete mich bei der "Dunklen Seite" an, bei der ich als Flurgeist bekannt war, und sogleich schrieb mich Mr. X an und textete mich mit Neuigkeiten zu.

Mr. X: Tagwohl die Dame, wussten Sie schon? Heute findet ein Treffen
der Dunklen Seite statt, ich hoffe ich werde Sie auch antreffen. :)
Die Leutchen spinnen, verkaufen ihre Glieder für ein Taschengeld
und Blut gibt’s gratis, solange man nicht mehr als 5 Liter braucht.
Flurg: Vermutlich werde ich erscheinen, aber werde nicht lange bleiben,
schließlich soll die Ware ja nicht schlecht werden.
Mr. X: Das stimmt auch wieder. :)
Flurg: Gibt es sonst Neuigkeiten? Wo findet das Treffen überhaupt statt
und wann?
Mr. X: Bei der alten Glocke, Sie sollten wissen welche ich meine. Und
beginnen wird das ganze Spektakel um 2 Uhr Morgens. :)
Neuigkeiten, hmmm,... Wahrlich, der alte Geier wurde gefasst.
Zu unvorsichtig beim beseitigen der Knochen. Sie sollten auch
auf sich aufpassen, die grünen Männer, die sich Polizisten
nennen, sind uns auf der Spur. Aber haben Sie sicher schon aus
der Zeitung entnommen.
Flurg: Die Zeitung liegt noch im Briefkasten. Dann wünsche ich Ihnen
noch einen erholsamen Tag, ich gehe auf die Jagd.
Mr. X: Viel Erfolg. :) Adieu.

Ich entfernte mich von meinem Freund, dem Computer, zog meine Stiefel an und machte mich auf die Suche nach meiner Schwester. Normalerweise sass sie jetzt in ihrem Kleiderschrank und pickste sich zur Beruhigung mit einer kleinen Nadel in den Finger, bis dieser blutete. Ich fragte mich oft, ob sie bereits in der Fingerspitze kein Gefühl mehr hatte oder ob sie den Schmerz einfach nur genoss. Ich zog die Schranktür auf und zu meinem Erstaunen, entdeckte ich sie dort nicht. ,, Schwesterherzchen? Wo steckst du?". Aus einem anderen Zimmer vernahm ich daraufhin ein Kirchern. Ich folgte dem Geräusch und fand meine Schwester im Wäschekorb mit einer ihrer Puppen, die sie Gisela getauft hatte. ,,Da bist du ja. Wie geht es Gisela?" , ,,Super, sie liebt mich." kicherte das Mädchen mit Puppe und schnitt dieser gleich den Kopf ab. ,,Kopflos würde es mir allerdings auch super gehn." flüsterte ich mir selbst zu, aber meine Schwester hatte mich natürlich trotzdem gehört und sah meine Kehle gierig an.
Ich liess sie im Wäschekorb zurück und suchte meinen Mantel, welcher sich besser vor mir zu verstecken vermochte als meine Schwester. Wo war das Teil bloss? Wie eine Irre rannte ich durchs Haus und suchte jeden Spalt ab. In der Küche war er nicht, Badezimmer auch nicht, und in meinem Zimmer sowieso nicht. Dann fiel mir wieder ein, das ich das Teil in den Wäschekorb gesteckt hatte, weil er sich, ohne mein Einverständnis, von Schwarz zu Braun verfärbt hatte.Beim Gedanken dran, wie meine Schwester jetzt kichernd mit geköpfter Puppe auf meinem Mantel sass, entwich mir ein Lächeln. Verrückt.
Wieso sie ausnahmsweise mit Gisela spielte war mir ein Rätsel.
Ich verlies das Haus, ohne wärmenden Mantel, und lief zur Bushaltestelle runter. Kein Mensch, ausser mir wollte, vermutlich heute mit dem Bus fahren weil erst gestern einer von der Strasse verdrängt wurde und gegen einen Baum geprallt war. Heisst doch nicht gleich dass das jeden Tag passieren musste. Ein kalter Wind ging und die Blätter raschelten, es war Herbst, kalt und traurig, wie jedes Jahr. Jeder starrte grimmig auf den Boden, fror und versuchte so schnell wie möglich in ein Kaffee oder in ein Geschäft zu flüchten, um sich da die Glieder zu wärmen. Selbst ich frierte, was mich nicht sonderlich verwunderte. Ich kuschelte mich auf die Wartebank und beobachtete wie blaue, und rote Autos auf der Strasse vorbeizischten. Ein Auto, zwei Autos, drei Autos, vier Autos, fünf Autos, ein Bus! Das gelbe Gefährt rollte auf mich und die Bank zu, stoppte und öffnete seine Türen. Ich fragte mich wo der rote Teppich denn blieb, aber stieg auch, ohne Teppich, ein.
Weil ich natürlich kein Geld dabei hatte, setzte ich mich ohne ein Fahrticket auf einen freien Platz, möglichst nahe bei der Türe. Das war eine Angewohnheit von mir. Meine Mutter sagte früher immer: ,, Kind setz dich nie in den hinteren Teil des Buses und auch nie vorne beim Fahrer hin, im hinteren Teil sitzen die schwarzen Monster, die dich auffressen, und der Busfahrer, der beisst kleine Mädchen!" Natürlich wusste ich heute das, dass Quatsch war, aber habe mich bereits daran gewöhnt, möglichst weit von den schwarzen Monster und vom beissenden Busfahrer entfernt, zu sitzen. Sicher ist sicher, nicht wahr?
Die Landschaft zog am Fenster vorbei, ich kannte sie in und auswendig, jeden Baum, jeden Stein, jedes Haus. Früher hetzten mich die Jungen aus meiner Klasse durch diese Strassen, bewarfen mich mit Steinen und Stöckchen. Doch ich hab innerlich nur gelacht, ich war der Fuchs, der die Gans gestohlen hatte und die verärgerten Bauern, in diesem Fall die Jungs, schlossen sich zusammen um dem Fuchs den Gar auszumachen, doch der Fuchs war schlau, holte sich jeden Tag erneut eine Gans und konnte dem tobenden Mopp entfliehn. Und genau so fühlte ich mich, ich war zwar die Gejagte, aber trotzdem die Siegerin, schliesslich war ich stark genug um mich nicht unterkriegen zu lassen. Starkes Ich, hechel, wuff-wuff.
Bei der dritten Haltestelle musste ich aussteigen, doch ausgerechnet stieg der Kontrolleur schon beim nächsten Halt ein. Er tratt vor mich, machte mit seiner Hand eine auffordernde Geste. ,, Fahrticket bitte, Kontrolle." Ich sah ihn an, sollte ich jetzt einfach so tun als würde ich schlafen?Augen schliessen und friedliche Schlaftöne von mir geben? Nein, das war auch für den Kerl zu offensichtlich. Wie wäre es mit der Fremdsprachen-Nummer? Oder doch die Behinderten-Nummer? Doch bevor ich meinen Ich-sprechen-kein-Deutsch-Plan in die Tat umsetzen konnte, griff mich der fettleibige Mann am Arm, hob mich unsanft von meinem mittlerweile warmen Plätzchen. ,, Aua!" Auf den Schmerzensschrei nahm er keine Rücksicht, nein der Bastard grinste auch noch frech. ,, Sie ungezogener Flegel! Hat Ihnen ihre Mutter nicht beigebracht wie man Frauen behandelt?" empörte ich mich, beinah schon wie ein altes Grossmütterchen mit schicker Krokodilhandtasche, rosa und funkelnd, mit Diamanten besetzt natürlich. ,, Nein, aber wie man kleine Gören, die sich nicht an die Vorschirften halten aus dem Bus wirft." Mit dem hatte ich nicht gerechnet und mit einem kleinen Schubs, war ich schon ausserhalb des Busses und konnte ihm zum Abschied nur noch hinterherwinken. Armes, ungerecht behandeltes Ich, ich klopfte mir selbst auf die Schultern um mich zu trösten. Schliesslich hätte ich lieber Busse gezahlt, anstatt mich körperlich zu betätigen und zur nächsten Raststätte zu laufen.

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